Kang Shiwei(1)
Die geistige Welt des Thorsten Schirmer(2)
Der
Raum ist dunkel. Nur eine einzige Kerze leuchtet einsam vor sich hin.
Durch den Raum schweben leise Klänge alter chinesischer
Guqin-Musik, als ob sie sanft vom Himmel fielen. Ein
Räucherstäbchen schickt seinen duftenden Rauch gen Himmel und
läßt ihn sich mit den Klängen der Musik vereinigen. Der
Rauch ist nur im Kerzenschein sichtbar. Plötzlich durchdringt der
Ton eines Holzfisch-Instruments die Stille. Durch den Klang erscheint
der Raum noch stiller. Der klare Ton einer Klangschale begleitet mich
auf eine Zeitreise zurück in das alte China. Der Raum gehört
einem Mann mit Namen Thorsten Schirmer, der sich der chinesischen
Fingermalerei zugewandt hat. Die oben beschriebene Atmosphäre
bildet ein festes Ritual vor Beginn seiner Malübung. Sie gleicht
der Atmosphäre eines Tempels, in dem das Rezitieren einer Sutra
erklingt. Ich halte die Luft an, um sie mit Körper und Seele
aufzunehmen. Diese Erfahrung der Selbstversenkung vermittelt den
Genuß des ursprünglichen asiatischen Geistes. Im
nächsten Augenblick füllt er aus einer Kanne edlen
Longqing-Tee in seine Schale. Im sanften Kerzenlicht liest er einen
Abschnitt aus dem Daodejing und betrachtet einige Abbildungen
songzeitlicher Malerei. Er verehrt die von Gao Qipei begründete
chinesische Fingermalerei. Sein Wunsch ist es, seine eigene Seele mit
der Landschaftsmalerei der Song-Dynastie im Geiste Ma Yuans zu
vereinen. Nach einer Weile stiller Versenkung kniet er vor ein
weißes Blatt Papier und beginnt zu malen. Er taucht seinen Finger
in die Tusche des großen Meisters Hu Kaiwen und vermischt sie mit
Wasser. Er malt eine Landschaft mit einem Ufer, einem Fischerboot,
einem einsamen Berg. Eine einzelne Weide ragt aus dem Gebüsch,
dort wo eine kleine Hütte steht. Sanft läßt er die
großartige, tiefsinnige und stille Atmosphäre der
Song-Malerei in seinem Bild lebendig werden. Er benutzt die vier
Kostbarkeiten des Studierzimmers sowie Stempel und Siegelfarbe. Sein
chinesischer Name lautet Xiaoshan. Anfangs dachte ich, diese Erfahrung
sei zufällig, aber in meiner Zeit, die ich in Deutschland
verbrachte, sah ich ihn immer so malen. Ich glaube, er sucht sein Leben
mit dem Geist Ostasiens zu verbinden. Der Unterschied zwischen
westlicher und östlicher Kultur schafft einen großen Abstand
zwischen den Künsten von Okzident und Orient. Der deutsche
Fingermaler ist ein Beispiel dafür, daß man mit Hingabe
wahrhaft die Kultur des Ostens erfassen kann. Ich dachte anfangs, wenn
ich mit ihm über Chan-Buddhismus spreche, würde er ziemlich
rat- und sprachlos sein. Das Gegenteil war der Fall. Vertraut mit der
Chan-Kunst, war seine feste Überzeugung, daß sie das
höchste Niveau in der Malerei Chinas darstellt. Ich war
überrascht, seine tiefe Erkenntnis des Zustands der Ichlosigkeit
und des Wuwei zu entdecken. Er hat mir erzählt, daß er schon
im Alter von dreizehn Jahren anfing, die Gespräche des Kongzi zu
lesen und seitdem die chinesische Kultur intensiv studierte. 1988 war
er erstmals in China und vertiefte anschließend seine
Fingermalerei, die er mit der traditionellen chinesischen Lebensart
verknüpfte. Dies ist in Deutschland wahrhaft selten. So ernsthaft
mit ganzem Herzen nach Absichtslosigkeit und höchster Erkenntnis
zu streben, ist etwas Besonderes. Diesen Zustand zu erreichen, liegt
jenseits von Fragen nach arm oder reich. Jeder Augenblick kann
Erkenntnis bringen. Er erreicht einen geistigen Zustand, den einst Tao
Yuanming als „die Schlichtheit umarmen und die Stille
bewahren“ bezeichnet hat. Nur in einer solchen Atmosphäre,
in einem solchen Zustand, kann wahre Kunst entstehen. Er benutzt
westliches Papier statt Xuanpapier und malt mit den Fingern und der
Handfläche, wobei seine Technik Unterschiede zu der traditionellen
chinesischen Fingermalerei aufweist. Er konzentriert sich nicht auf
Details oder Strukurtechniken gemäß des Senfkorngartens. Er
versucht vielmehr, sein Qi harmonisch in das Bild fließen zu
lassen. Dies ist die Großartigkeit seiner Malerei. Er
hinterläßt meist klug nur einen Stempel in der Leere. Er
begreift den geistigen Kern, bringt seine Gedanken unter Kontrolle und
fixiert sich nicht auf die Form sondern bemüht sich, den Geist des
Augenblicks auszudrücken. So spricht er durch Andeutung und bringt
doch alles zum Ausdruck. In Deutschland, den U.S.A. und China sind
seine Werke ausgestellt worden, aber selten mögen seine Bilder
wirklich verstanden werden. Ich bin der Meinung, er selbst hat durch
sein einsames Streben in der Malerei ein Niveau im Chan erreicht, das
ihn wahrhafte Chan-Kunst mit einer Atmosphäre des reinen Geistes
schaffen läßt.
(1)
Der Autor Kang Shiwei ist ein über die Grenzen Chinas hinaus
bekannter Maler, Photograph und Journalist. Er lebt und arbeitet in
Hefei, China.
(2)
Der Artikel, übersetzt aus dem Chinesischen, wurde (hier leicht
gekürzt wiedergegeben) erstmals veröffentlicht in „
Zhongguoshouzhihua. Chinese Fingerpainting“, Fachzeitschrift des
Verbandes für chinesische Fingermalerei, Wuhan, 1996, Ausgabe 24.
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