Die Malerei Ostasiens ist in den wesentlichen
Teilen ein Kind Chinas. Seit der ersten Jahrtausendwende unserer
Zeitrechnung finden wir auch einige bemerkenswerte Beiträge
auf dem Boden des japanischen Inselreiches, allerdings in weitgehender
Abhängigkeit von den Entwicklungen des benachbarten
Festlandes. Korea kommt hier, wie in den meisten anderen
Fällen des Kulturaustausches zwischen China und Japan, die
eher unscheinbare Rolle eines Transitlandes zu. Zwar haben sich auch
aus Korea einige hochklassige Werke erhalten, diese spielen jedoch in
der Entwicklungsgeschichte der ostasiatischen Malerei keine
prägende Rolle. So konzentrieren sich die kunsthistorischen
Betrachtungen zu diesem Thema in der Regel ausschließlich auf
die Entwicklungen in China und den Widerhall, den sie auf den
japanischen Inseln fanden. Vor allem zwei Bewegungen innerhalb der
komplexen Geisteswelt Chinas standen für ein auf innere
Vervollkommnung gerichtetes Schaffen: der philosophische Daoismus und
die buddhistische Schule des Chan (im Westen vor allem unter seinem
japanischen Namen "Zen" bekannt. Malerei im traditionellen
Verständnis des fernen Ostens bedeutet in erster Linie das
Malen mit schwarzer Tusche auf Papier oder Seide. So einfach diese
Aussage klingt, so komplex sind die Gründe, die zu dieser
einzigartigen Dominanz schlichtester Darstellungsmittel
geführt haben. Die freie Malerei emanzipierte sich von der
handwerklichen Darstellung erst durch den Einfluß der
Kalligraphie. Der durch die komplexe Form chinesischer Schriftzeichen
geübte Pinsel war der gleiche, der auch die Konturen des zu
malenden Objektes beschrieb. Im Primat der Linie, dem für die
weitere Entwicklung der Tuschmalerei eine Schlüsselrolle
zukommt, erkennen wir deutlich den Einfluß der Schriftkunst
auf die Malerei. Mit den sechs Prinzipien des Xieh Ho formulierte ein
Kritiker um die Wende vom 5. zum 6. Jahrhundert die Regeln einer
idealen Malerei, die bis in die Neuzeit Gültigkeit besitzen
sollten. Die Prinzipien lauten:
- lebendige Atmosphäre und
Ausdruck der Lebensenergie
- strukturbildender Pinselduktus
- korrekte Darstellung
- rechte Farbgebung
- Komposition
- Nachschöpfen und Kopieren
Die Prinzipien eins und sechs verdienen eine
besondere Erwähnung, handelt es sich hierbei doch um die
wesentlichsten Forderungen. An dem ersten Prinzip scheitert jeder
Übersetzungsversuch. Es kann nur mit einer vagen Umschreibung
ausgedrückt werden, da ihm keine äquivalenten
Begriffe in den Sprachen der westlichen Welt gegenüber stehen.
Der Ausdruck des Qi (chin. für Lebensenergie) steht quasi
zwischen den Zeilen und wird von jedem gebildeten Chinesen mit einer
lebendigen Darstellung verknüpft. Hier haben wir das
Schlüsselprinzip zum Verständnis der chinesischen
Malweise vor uns, dessen Bedeutung und Einfluß in den
folgenden Ausführungen aufgezeigt wird. Das sechste Prinzip
ist gleichfalls ein typisch chinesisches Ideal. Durch
Nachschöpfen bzw. Kopieren eines Vorbildes soll sich dem Maler
nicht nur Technik und Komposition eines Meisterwerkes
erschließen, er kann sich nach Überzeugung der
Chinesen auf diese Weise auch intuitiv mit dem Geist des verehrten
Meisters in Einklang versetzen. Es ist nicht nur das reine Nachahmen,
was hier gefordert wird. Vielmehr kommt dem schöpferischen
Dialog mit den Vorbildern vergangener Zeiten ein sehr hoher Stellenwert
zu. Dies liegt zweifellos an der gesellschaftlichen Grundordnung
Chinas. Die Individualität stand und steht immer hinter der
Gemeinschaft zurück. Man suchte stets nach einem gemeinsamen,
allgemein anerkannten Vorbild, um sich an ihm zu entwickeln und zu
messen.
Große Teile der traditionellen Malthemen
vom Daoismus geprägt, allen voran das Landschaftsthema. Berg
und Wasser als Stellvertreter für die Urprinzipien Yang und
Yin sind das daoistische Motiv schlechthin. Dao (chin. Weg) ist ein
Universalprinzip, das sich besonders gut in einem Makrokosmos wie der
Gebirgswelt andeuten läßt. Der Maler formt
Symbollandschaften, in denen Berg und Wasser zu einer harmonischen
Einheit verschmolzen werden. Dabei kann Wasser auch als Wolken oder
Nebel im Bild präsent sein. Ein Gleichgewicht der
Kräfte ergibt sich vor allem aus einer inneren Sicht, die
nicht in rationale Formeln zu gießen ist. Ein Bild kann von
Bergen oder auch vom Wasser dominiert sein und dennoch mit klug
gesetzten Akzenten des gegensätzlichen Elements zu
künstlerischer Balance finden. Das Prinzip von Yin und Yang
findet sich auch in anderen Standardthemen wieder und durchzieht die
Kompositionslehre der traditionellen Malerei Ostasiens wie ein roter
Faden. Man baut das Gesamtmotiv aus einzelnen Gruppen nach den
Gegensätzen von Groß und Klein, Fern und Nah, Hoch
und Niedrig, Kräftig und Zart oder Bewegt und Unbewegt auf.
Die Reihe ließe sich noch weiter fortsetzen,
erläutert aber bereits, wie intensiv das bildnerische
Gesamtkonzept der Tuschmalerei von daoistischen Einflüssen
geprägt ist. Die frühe Angewohnheit der chinesischen
Malerei, Darstellungen vor einem unbemalten Hintergrund abzubilden,
wurde unter daoistischen Einflüssen zu einer harmonischen
Verbindung von Form und Leere kultiviert. Die Leere als Wesenskern
aller Dinge gehört zu den Grundanschauungen des Daoismus. In
der Malerei wird sie daher immer als Symbolträger verstanden.
Die Einheit von Form und Leere darzustellen, ist demnach ein ganz aus
daoistischer Tradition erwachsenes Phänomen der Maltradition
Ostasiens, auch wenn es später in besonders starkem
Maße mit der chan-buddhistischen Malerei in Verbindung
gebracht wird. Ein weiterer, wesentlicher Einfluß spiegelt
sich in zahlreichen Gleichnissen bei Zhuangzi wieder. Dort
läßt der zweite große Philosoph des
Daoismus Handwerker und Künstler über ihr Werk
sprechen. Die Kernaussage liegt in der völligen Hingabe an das
Schaffen, welche zu Leistungen befähigt, deren der rationale
Geist allein nicht mächtig ist. Eine intuitive Verschmelzung
von Schöpfer und Werk findet unter einer
selbstentäußerten Wahrnehmung in tiefster
Konzentration statt, was für das Prinzip des Wuwei hinter der
gelungenen Ausführung spricht. Dabei soll alles Streben nach
Zielen und Ergebnissen aufgegeben werden, um aus der Einheit mit dem
Dao heraus wirken zu können. Zhuangzi erzählt dies
anschaulich am Beispiel eines Koches, der sein Beil so geschickt der
Anatomie seiner Schlachtochsen anpaßt, daß er sein
Beil über viele Jahre hinweg weder austauschen noch
schärfen muß. Oder wir hören von dem
Schnitzmeister, der einen himmlischen Glockenspiel-Ständer
schuf, in dem er allen Ruhm und Verdienst vergaß, bevor er
ans Werk ging. Überall in seinen Geschichten spricht er
über die rechte Haltung, die dem Prinzip des Wuwei zugrunde
liegt. Das erreichen von Wuwei im Denken und Handeln gilt als das
höchste Ideal im Daoismus wie auch auf dem Weg des Malens.
Wenn wir die rationalen Kräfte zurück nehmen, erwacht
in uns eine Fähigkeit, den Augenblick des Handels ganz frei
von willentlicher Beeinflussung zu erfahren. Der Geist entleert sich
aller Vorstellungen und Wünsche, so daß er in der
Lage ist, ein Ergebnis zu erreichen, ohne dies willentlich anzustreben.
Dies hat nichts mit einem passiven "Gelebtwerden" zu tun. Vielmehr
erfordert die Geisteshaltung des Wuwei einen wachen, aktiven Geist, der
in der Lage ist, sich aus eigener Kraft der jeweiligen Situation
anzupassen, auf die er sich einläßt. Für
die Malerei bedeutet dies, die Tusche frei fließen zu lassen
und den Duktus der natürlichen Bewegung von Hand und Arm
anzupassen. Überall dort, wo eine freie Malweise sich den
zahllosen Konventionen überlieferter Techniken und
Darstellungsweisen entzieht, spricht dies für das daoistische
Prinzip in der Malerei. Größtmögliche
Freiheit der Ausführung muß sich jedoch mit
meisterhafter Beherrschung aller künstlerischen
Ausdrucksmittel paaren, um ein wirkliches Meisterwerk entstehen zu
lassen. Die Chinesen sprechen gern von Eingebung, wenn es um die
Erklärung einer solch meisterhaften Ausführung im
Geiste des Wuwei geht. Von jenen Eingebungen haben sich in den
frühen Aufzeichnungen der Malerei einige Anekdoten erhalten,
die - unabhängig ihres historischen Wahrheitsgehaltes -
deutlich von Inspirationen einer "höheren Ordnung" sprechen.
Das abstrakte Prinzip Tian, das schon in vor-daoistischer Zeit
Gegenstand der Verehrung und Anbetung war, wird dabei gerne als vage
Umschreibung jener eingebenden Kraft genannt. Die tiefere Bedeutung
einer solchen "Eingebungslehre" weist wieder auf das Wuwei-Prinzip
zurück. Wer sich frei von seinem "kleinen Ich" dem alles Sein
umfassenden Augenblick öffnet, dessen schöpferische
Tätigkeit äußert das "große Ich"
des vom Dao erfüllten Geistes. Neben diesen
Einflüssen ist schließlich das Prinzip des Daos als
Lebens-Weg von größter Bedeutung. Der Maler befindet
sich auf seinem Weg, in dem er die Übung als lebenslange
Begleitung zur Selbstentwicklung nutzt. Gleichzeitig steht Dao aber
auch noch für die gesamte Lebenshaltung an sich, die Denken,
Fühlen und Handeln des Künstlers
einschließt.
Neben dem Daoismus ist der Chan-Buddhismus ein
bedeutsames Fundament für die Malerei Ostasiens. Der
chinesische Name "Chan-Buddhismus" leitet sich als verkürzte
phonetische Wiedergabe von dem Sanskritwort "Dhyana"
(wörtlich: Versenkung) ab. Dhyana beschreibt im Buddhismus ein
Mittel zum Erreichen der Buddhaschaft, in dem sich der Mensch in
geistiger Versenkung übt. Als Zustand, in dem der historische
Buddha Gautama Siddhartha (etwa 560-480 v. Chr.) seine höchste
Erkenntnis erreichte, kommt Dhyana nach Überzeugung der
Chan-Schule eine Schlüsselrolle auf dem Weg zur geistigen
Befreiung (sanskr. Nirvana - wörtl. Erlöschung) zu.
Der Weg zur Überwindung des Leidens wurde von ihm als
"Mittlerer Pfad" beschrieben. Durch Jahre asketischer Übungen
wurde ihm bewußt, daß ihn Selbstleugnung nicht an
sein Ziel bringen konnte. Als "Mittleren Pfad" wählte er sich
die Übung von Dhyana, um seinem Ziel näher zu kommen.
Schließlich gelang ihm in tiefer Kontemplation der Durchbruch
zur geistigen Befreiung. Der Chan-Buddhismus bezieht sich direkt auf
die Art und Weise, wie der historische Buddha seine eigene geistige
Befreiung erreichte. Daß sie letztendlich eine unmittelbar
plötzliche Erkenntnis wie eine Art Erwachen war, wird im Chan
zu besonderer Bedeutung erhoben. Erst aus dieser Erkenntnis heraus sei
es möglich, die übrigen Pfade ganzheitlich zu
meistern und somit Buddhaschaft zu erlangen. Nichts weniger als diese
Erkenntnis wurde zum Ziel aller Bemühungen im Chan
erklärt. Was der Buddha erkannte und wie er sein Ziel
erreichte, sollte das Streben eines Buddhisten prägen. Treu
den unkonventionellen Ideen dieser Schule folgend, verschrieb sich die
darstellende Kunst des Chan dem Ideal äußerster
Sparsamkeit in den Mitteln der Darstellung. Verzicht auf Farbe,
Reduktion der Form auf wenige, aussagekräftige Pinselstriche
und Auflösung der Motive in der allumfassenden Leere des
weißen Malgrunds sind die äußeren
Kennzeichen der Chan-Malerei. Die inneren Prinzipien dieser Kunst
verpflichten sich der Einheit von Form und Leere. Neu für den
Motivkreis der chinesischen Malerei waren die Idealportraits (ideal im
Sinne einer nicht bekannten Physiognomie) des 1. Patriarchen des Chan
Bodhidharma und anderer Figuren der Chan-Legende, die keineswegs im
Stil der bekannten Sakralmalerei dargestellt wurden. Vielmehr
überraschen diese Bilder mit einem fast respektlosen,
humorvollen Unterton. Die Portraits des ersten Patriarchen, wie auch
andere Darstellungen großer Meister, zeigen die Figuren meist
fern jeder Verklärung mit einfachen Strichzeichnungen, die zum
Teil an der Grenze zur Karikatur stehen. Insgesamt übte der
Chan-Buddhismus einen großen Einfluss auf die Geisteshaltung
und Stilbildung der Malerei Ostasiens aus und ist auch heute eine
wichtige Inspitationsquelle im Schaffen zahlloser Künstler in
Ost und West.
Quelle: Schirmer, Thorsten: Der Weg des Malens.
Betrachtungen über die Malerei Ostasiens. Hannover, 2007
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