Pilgerfahrt zum Jiuhuashan
Der folgende Erlebnisbericht dokumentiert die
Bedeutung der unmittelbaren Naturerfahrung als Inspirationsquelle am
Beispiel einer Besteigung des Jiuhuashan(1).
Er wurde in stark gekürzter Form entnommen aus:
„Hinter den Mauern des Senfkorngartens - Begegnungen mit der
Malerei Chinas“ von Thorsten Schirmer, 1999 im Verlag
für Ethnologie, Hannover, erschienen.
Direkt nach Sonnenaufgang starteten wir im dichten
Nebel. Auf einer schmalen Hochstraße umfuhren wir einen
Gipfel und bogen in das tief eingeschnittene Tal, von dem aus der
Aufstieg über einen mit steinernen Stufen ausgebauten Weg
beginnen sollte. Im feinen Sprühregen zogen wir ein
Stück hinauf zu einer mächtigen Kiefer, die als
schwarzer Schatten im dichten Nebel sichtbar wurde. Auf einem kleinen
Plateau ragte sie mit gekrümmten Ästen einsam in das
Grau des Morgens hinein, während einige Pilger scheu den
gewaltigen Stamm betasteten. Durch ein Bambuswäldchen
schlängelte sich der Treppenpfad aufwärts. Unter uns
wusch eine Nonne ihre Wäsche im klaren Gebirgsbach. Hier am
Fuße des Berges luden beiderseits des Weges kleine
Gasthäuser zur Rast ein. Es hatte aufgehört zu
regnen. Dampfend stieg die Feuchtigkeit in dichten Nebelschwaden aus
den Bergwäldern die steilen Hänge hinauf. Erste
Sonnenstrahlen hatten sich bereits durch die Wolken gekämpft
und trafen auf die tanzenden Nebel. Vor uns tauchte plötzlich
ein großer Felsblock aus der Nebelwand auf, von einem
schmalen Lichtstrahl getroffen. Wie geblendet blieb ich vor dieser
Erscheinung stehen. Der im Wechselspiel aus Nebel und Licht gebadete
Fels war lebendige Malerei. Ich sah in seinen Formen die
„Hiebe einer großen Axt“, wie sie die
Ma-Xia-Schule so wirkungsvoll eingesetzt hatte, und
tatsächlich wollte es mir so scheinen, als ob sich der Felsen
vor dem leeren Grund sanft getönten Papiers abzeichnete.
Fassungslos stand ich mitten auf dem Pilgerweg, unfähig mich
auch nur eine Schrittbreite von diesem Wunder zu trennen. Man hatte
zunächst nicht bemerkt, daß ich zurück
geblieben war, so daß sich die Gruppe bereits weit entfernt
hatte. Schließlich kehrte Professor Zhai um. Ich sehe noch
heute sein lachendes Gesicht vor mir, wie er aus dem Nebel die Stufen
hinunter stieg und mit dem Finger auf den Felsen wies. „Wir
haben Glück, sehr großes Glück sogar! Das
Wetter entwickelt sich geradezu ideal“, erklärte er
begeistert. Nun mag es für Europäer befremdlich
klingen, wie jemand, der eine lange Reise unternommen hat, um einen
Gipfel zu erklimmen, Nebel mit Sichtweiten unter zwanzig Metern
für beste Wetterbedingungen halten kann. Aber für
chinesische Maler offenbart die Stimmung von Nebel, Licht und Fels die
Seele eines Berges. Nun war alle Müdigkeit der frühen
Stunde von mir abgefallen. Ich stürzte geradezu Stufe um Stufe
hinauf. Zwischen dunklem Dickicht aus Bambus und Kiefern
führte der Pfad bergan, bis sich im Nebel unvermittelt die
Umrisse eines kleinen Tempels über mir abzeichneten. Die
steinernen Stufen verliefen direkt durch die weiße
Giebelfront. In den Nischen der Wände hatten Gläubige
glimmende Räucherstäbchen zurück gelassen.
Pilger verrichteten am Wegesrand ihre Gebete, während
zerlumpte Gestalten um ein paar Münzen bettelten. Tempel um
Tempel durchwanderte ich auf diese Weise. In einigen brannte Feuer,
dessen Rauch sich mit den Nebelschwaden vermischte und mir den Weg nach
oben wies. Plötzlich zog mich Chen Baochun, der einzige aus
der Gruppe, der mit mir vorangegangen war, auf die Seite. Zur linken
Hand wurde ein Felsen sichtbar, dessen eigentümliche Form die
frommen Buddhisten an ihren Bodhisattva Guanyin erinnert.
Tatsächlich schienen die Nebel einen mystischen Zauber um
dieses natürliche Heiligtum zu weben. Ich begann zu verstehen,
warum die Mönche früherer Zeiten aus den vielen
Bergen der Region gerade diesen Gipfel zum Sitz gewählt
hatten. Weiter erklomm ich Stufe um Stufe, mit jedem Schritt ein neues
Bild entdeckend. Mir schien es, als wanderte ich durch die Landschaft
meiner Seele und die Motive meiner eigenen Malerei. Kaum drehte ich
mich zur einen Seite, so war der eben noch betrachtete Felsen bereits
wieder im Nebel verschwunden. Wandte ich den Kopf wieder
zurück, so fesselte mich schon wieder ein neues Bild. Mit
jedem Höhenmeter wurde der Nebel dichter, bis ich
schließlich kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Vorsichtig
tastete ich mich die feuchten Stufen empor, die sich unter den
zahllosen Pilgerfüßen vieler Generationen abgenutzt
hatten. Plötzlich, ich hatte mich gerade für einen
Moment auf den Weg konzentriert, stand unvermittelt eine
mächtige Felswand vor mir. Fast verlor ich das Gleichgewicht,
so erschrocken war ich von diesem Anblick. Zwischen die Gipfelzacken
duckte sich ein Tempel, der das Ziel des Pilgerpfades markierte.
Schnell stieg ich die letzten Stufen empor. Duftender Rauch und dumpfe
Klänge hölzerner Schlaginstrumente2 empfingen mich.
Ein frischer Wind blies über den Gipfel und trieb den Nebel
die rückseitigen Hänge hinunter. Hier erwartete ich
erschöpft die Ankunft meiner Begleiter. Nachdem auch sie eine
ausgiebige Rast genossen hatten, wanderten wir ein Stück auf
dem Gipfelgrat entlang und suchten uns einen der zahlreichen Seitenwege
zum Abstieg. Als wir schließlich die Talsohle wieder
erreichten, hatten schwere Regenwolken die Sonne wieder verschluckt,
und der heilige Berg entzog sich wieder unseren Blicken.
(1) Der Jiuhuashan im Süden der Provinz
Anhui gehört zu den heiligen Bergen des Buddhismus in China
und nimmt unter ihnen nach allgemeiner Auffassung den bedeutendsten
Platz ein.
(2) In den buddhistischen Tempeln sind
hölzerne Klanginstrumente verschiedener
Größe zur rhythmischen Unterstützung der
Rezitationen gebräuchlich. Von ihrer Form abgeleitet, werden
sie „Holzfisch“ genannt.
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